Unsere Gehirne sind so einzigartig wie Schneeflocken. Diese Erkenntnis ist nicht nur poetisch, sondern auch geschäftlich relevant: Denn sie bildet die Grundlage für ein Konzept, das zunehmend an Bedeutung gewinnt: Neurodiversität.
Was ist Neurodiversität?
Der Begriff wurde Ende der 1990er Jahre von der australischen Soziologin Judy Singer geprägt, die selbst autistisch ist. Er beschreibt die natürliche neurologische Vielfalt, vergleichbar mit Biodiversität in der Natur. Neurologische Profile, wie Autismus, ADHS, Legasthenie oder Tourette-Syndrom sind Varianten menschlicher Entwicklung – keine Krankheiten, jeweils mit eigenen Herausforderungen, aber auch mit einzigartigen Stärken.
Viele Mythen umkreisen etwa Autismus: Nicht alle Betroffenen sind mathematisch begabt oder außergewöhnlich intelligent, doch sie können über besondere Fähigkeiten wie hohe Konzentration, herausragendes Mustererkennen oder Detailgenauigkeit verfügen. Diese Eigenschaften sind in Berufsfeldern wie Datenanalyse, Compliance oder IT besonders wertvoll. Ein Controlling-Kollege etwa erkennt Zahlenunregelmäßigkeiten, nicht, weil er schneller rechnet, sondern weil er anders hinsieht.
Warum ist Neurodiversität wichtig für Unternehmen?
Viele neurodivergente Menschen arbeiten bereits in unseren Organisationen – oft ohne Diagnose oder offene Kommunikation. Sie „maskieren“ ihre Besonderheiten, um nicht aufzufallen, was viel Energie kostet und ihre Potenziale hemmt. Gleichzeitig profitieren Organisationen enorm von dieser Vielfalt: durch Detailgenauigkeit, kreative Perspektiven, unkonventionelles Denken und systematisches Arbeiten in Bereichen wie Qualitätssicherung und Prozessoptimierung.
Studien und Praxisbeispiele – etwa von SAP, EY oder Microsoft – zeigen: Inklusion ist kein „Nice-to-have“, sondern ein echter Wettbewerbsvorteil.
Herausforderungen im Arbeitsalltag
Im Alltag stoßen neurodivergente Mitarbeitende oft auf Barrieren, die unbewusst von neurotypischen Strukturen ausgehen. Großraumbüros mit Lärm und visuellen Reizen bzw. ständige Unterbrechungen können etwa für Menschen im Autismus-Spektrum oder mit ADHS belastend sein. Auch die oftmals implizite, ironische oder vage Kommunikation in Teams führt bei „wörtlich“ denkenden Personen regelmäßig zu Missverständnissen.
Zeitdruck und Multitasking sind weitere Stolpersteine, besonders für Menschen, die klare Strukturen bevorzugen. Fehlinterpretationen sind dann häufig: Wer sich zurückzieht, wird als „nicht teamfähig“ wahrgenommen, wer Aufgaben nicht linear bearbeitet, gilt als „unkonzentriert“, und wer auf Details besteht oder direkt kommuniziert, wird als „zu speziell“ abgestempelt. Diese Missverständnisse resultieren selten aus Ablehnung, sondern aus einer Arbeitsumgebung, die meist auf neurotypische Verhaltensmuster zugeschnitten ist.
Ein bewusster Perspektivenwechsel und Anpassungen können hier viel bewirken.
Was können Unternehmen tun?
Neurodiversität ist wertvolle Vielfalt, die nur dann wirkt, wenn Strukturen hinterfragt und aktiv inklusiver gestaltet werden. Das muss nicht kompliziert sein – oft genügen kleine, bewusste Änderungen, die einen großen Unterschied machen – für Einzelne und für das gesamte Team:
1. Fragen statt urteilen: Sprechen Sie offen mit Mitarbeitenden, die anders arbeiten oder besondere Bedürfnisse haben. Fragen wie „Was brauchst du, um gut arbeiten zu können?“ schaffen Vertrauen und fördern Offenheit.
2. Klare Kommunikation: Vermeiden Sie vage Formulierungen, Ironie oder unklare Deadlines. Klare, strukturierte Kommunikation erleichtert allen Mitarbeitenden den Arbeitsalltag.
3. Räume für individuellen Arbeitsstil: Nicht jeder kann im Großraumbüro oder bei spontanen Meetings seine beste Leistung zeigen. Flexible Arbeitszeiten, Homeoffice und Rückzugsorte unterstützen Konzentration und Wohlbefinden.
4. Stärken fokussieren: Achten Sie auf die besonderen Fähigkeiten neurodivergenter Mitarbeitender wie Detailgenauigkeit, Kreativität oder Mustererkennung – sie sind wertvolle Ressourcen.
5. Recruiting inklusiv gestalten: Überdenken Sie traditionelle Auswahlverfahren. Braucht es z.B. wirklich ein Gruppengespräch? Oder sagt eine Arbeitsprobe mehr? Transparente Abläufe und die Möglichkeit, Fragen vorab schriftlich zu klären, sind erste kleine Schritte, um Bewerbungsprozesse zugänglicher zu gestalten.
Inklusion beginnt nicht mit Perfektion – sondern mit Haltung. Mit der Bereitschaft, zuzuhören, zu lernen und Dinge anders zu denken. Wenn wir Strukturen anpassen, statt Menschen an starre Normen anzupassen, profitieren alle: Teams, Unternehmen und die Gesellschaft.




